Don‘t f*ck Twitter up!
Der Kurznachrichtendienst flattert in die falsche Richtung
Wachsen, wachsen und nochmal wachsen. Das ist die Devise, nach der Unternehmen in der Tech-Branche leben – und insbesondere die sozialen Netzwerke. Nutzerzahlen und ihr Wachstum sind die bestimmenden Größen, an denen nahezu der gesamte Erfolg gemessen wird.
Facebook hat es vorgelebt: Innerhalb von elf Jahren ist das Netzwerk auf eine Milliarde tägliche Nutzer gewachsen. Für dieses stetige Wachstum hat sich Facebook jahrelang kontinuierlich verändert, auf seine Nutzer eingestellt und ihre Bedürfnisse früh erkannt. Und hat damit nahezu jeden Bereich unseres digitalen Lebens erreicht. Mittlerweile wird Facebook von Quartal zu Quartal von der Börse gefeiert, obwohl es nach dem katastrophalen Börsengang 2012 ganz anders aussah.
2006, zwei Jahre nach thefacebook.com von Mark Zuckerberg, ging Jack Dorsey mit twttr.com online. Seitdem flattert sein Projekt den großen Schwingenschlägen von Facebook hinterher. An dessen Wachstum, Nutzerzahlen und Börsendaten muss sich der Kolibri Twitter immer wieder messen lassen. Ein unfaires Rennen, das dem Zwitscher-Piepmatz nicht gerecht wird. An der Börse befindet sich die TWR-Aktie im Sturzflug und in dem panischen Versuch, an der Börse wieder Aufwind zu bekommen, fliegt der Kurznachrichtendienst gerade in die falsche Richtung.
Millionen monatlich aktive Nutzer zählt Facebook laut eigenen Angaben.
(Stand 3. Quartal 2015)
Millionen monatlich aktive Nutzer zählt Twitter laut eigenen Angaben.
(Stand 3. Quartal 2015)
Das Problem aus Sicht von Twitter: Das Wachstum stagniert und das Netzwerk verliert damit Boden an die Konkurrenz. Die Neueinsteiger tun sich schwer dabei, in die komplexe Welt der 140 Zeichen und Hashtags hineinzufinden sowie ihr dann auch treu zu bleiben. Stärker und schneller als bei anderen Diensten spalten sich Twitterer in Heavy-User und Aussteiger, bilden sich die treuen Fans und Zweifler heraus – dazwischen gibt es nichts.
Aber das eigentliche Problem ist, dass Twitter sich so stark an der Größe Wachstum und an den neuen Nutzern definiert. Denn der Kurznachrichtendienst hat sowohl eine eingeschworene Nutzergruppe an sich gebunden als auch eine ganz eigene Relevanz entwickelt.
Stammkunden in der Hashtag-Kneipe
Treue Nutzer hat Twitter bereits, das hat zuletzt der #herzchengate/#twitterheart-Aufschrei bewiesen, der durch die 140-Zeichen-Gemeinde ging, als der Favorite-Stern zu einem Like-Herzchen wurde.
Den Shitstorm im Wasserglas kann man als übertrieben empfinden – genauso wie man anzweifeln darf, ob mit dem roten Kitsch-Herz die Schwierigkeiten von neuen Nutzern beseitigt sind. Aber die Reaktion auf die Mini-Veränderung zeigt, dass es schon eine eingeschworene Nutzergemeinde gibt, sozusagen die Stammkunden in der Hashtag-Kneipe. Und die reagieren empfindlich, wenn die Tweet-Bar plötzlich umdekoriert wird.
6. And, finally: You are not Instagram. *And that’s OK.* It’s ok to be yourself, @twitter. Be a leader, not a dumbed-down follower. ⭐
— Evakatrina (@evakatrina) 3. November 2015
TWITTER DESIGNER: How about instead of stars we do hearts TWITTER CEO: As long as people can still swear at total strangers, idgaf
— pat tobin (@tastefactory) 3. November 2015
You can say a lot with a heart. Introducing a new way to show how you feel on Twitter: https://t.co/WKBEmORXNW pic.twitter.com/G4ZGe0rDTP
— Twitter (@twitter) 3. November 2015
@twitter You Facebooked my Twitter?
— Scott T. Smith (@UniPresser_UPI) 3. November 2015
Lange auf dem Handy gehabt. Endlich passt es perfekt. #heartgate pic.twitter.com/oNPK61OZqq
— Miss Knitterich (@Knittergesicht) 6. November 2015
Zeitgleich war die Änderung exemplarisch dafür, dass der Kurznachrichtendienst sich eher an anderen an Facebook orientiert statt auf die eigenen Stärken zu bauen. „Wir wollen ein bisschen mehr wie Facebook sein“ statt „Wir wollen Twitter ein bisschen besser machen“.
Mit der „Copy-Facebook, Paste-Twitter“-Lösung hat sich der Dienst außerdem exakt das Problem neu angeschafft, das man in Palo Alto seit Jahren zu lösen versucht:
Kann/darf/sollte man eine Katastrophe, ein Attentat, negative Meldungen im Allgemeinen mit einem „Gefällt mir“ markieren?
Die Entscheidung, den wertneutralen Favorite-Stern gegen das bedeutungsaufgeladene Herz auszutauschen, hätte für eine emotionale Plattform noch halbwegs Sinn ergeben. Für das Schwalbennest, welches sich Twitter in der Nachrichten-Nische gebaut hat, ist das Herz einfach: falsch.
Noch weitaus dramatischer wäre es, wenn tatsächlich auch die chronologische Reihenfolge der Twitter-Timeline aufgegeben werden sollte. Die geteilten Musikvideos, Urlaubsbilder und Links meiner Freunde auf Facebook muss ich nicht zwingend nach Uhrzeit sortiert vorfinden. Aber für Twitter halte ich die strikte chronologische Reihenfolge für grundlegend. Der Abschied von der Chronologie wäre auch ein Abschied vom Fokus auf Aktualität. Es wäre ein Abschied vom einem der letzten verbleibenden Alleinstellungsmerkmalen, das Twitter noch zu bieten hat.
Kann man negative Meldungen mit einem „Gefällt mir“, mit einem Herz markieren?
Real story: Twitter, the last serious social network, decides we must pretend the world is an Apple ad
— ᴅᴇʀᴇᴋ ᴍᴇᴀᴅ (@derektmead) 3. November 2015
Während Facebook ursprünglich als ein Netzwerk von privaten Inhalten angelegt ist – in das über die Jahre immer mehr öffentliche Inhalte und Medien eingewoben wurden – verhält sich Twitter genau umgekehrt. Dort war und ist immer noch alles öffentlich, die Kommunikation dort eben nicht hauptsächlich privater Natur. Das zieht auch eher Nutzer an, die genau diese Öffentlichkeit gewohnt sind und sogar suchen. Politiker. Künstler. Sportler. Fans. Journalisten. Organisationen.
Der Kurznachrichtendienst ist vor allem eben das: Ein öffentlicher Dienst für kurze Nachrichten. Er zieht Informationsjunkies aller Art an. Ja, Twitter bedient damit eine Nische. Aber die ziemlich gut.
Eben weil Twitter sein Nest in so einer Nische gebaut hat, wird seine Relevanz häufig unterschätzt (besonders in Twitter-Muffel-Land Deutschland). Denn die geht weit über die bloße Zahl von aktiven Nutzern pro Monat hinaus. Tweets und Hashtags sind eine wichtige digitale Informationsquelle geworden, die nicht nur von angemeldeten Nutzern genutzt wird. Zur Bedeutung von Twitter zählt auch: Jeder eingebettete Tweet, jede Quellennennung („…wie auf dem Kurznachrichtendienst…“). Jede Debatte, die per Hashtag angestoßen und geführt wird.
– Twitter-CEO Jack Dorsey
Bei nachrichtlichen Großereignissen wie den #parisattacks vom 13. November zeigt sich, wo die Stärken und Schwächen von Twitter liegen. Twitter ist gerade eine rohe Form von maximaler Öffentlichkeit im Digitalen, in schön und in hässlich..
Da ist einerseits die rohe Anziehungskraft und Macht, die von Echtzeit-Nachrichten auf Twitter ausgeht. Eilmeldungen, Entwicklungen, sekündliche Updates können Tweets ungeschlagen gut darstellen und verbreiten. Nur die rohe Öffentlichkeit von Twitter ermöglichte Aktionen wie #porteouverte und #rechercheparis in dieser Geschwindkeit.
Die rohe Schnelligkeit von Retweets und Hashtags hat aber ein Preis: Die Informationen sind ebenfalls roh – im Sinne von unbearbeitet, ungefiltert, unsortiert. Falschmeldungen und Gerüchte verbreiten sich mindestens genauso schnell wie Breaking News. Einzelne Meldungen und ihre Glaubwürdigkeit einzuordnen, setzt eine extrem hohe Twitter-/Medienkompetenz voraus.
Trotz aller Nachteile: Twitter ist aktuell DAS Live-Medium, nirgends sonst sind Echtzeit-Informationen so einfach zu bekommen. Live-Ereignisse und aktuelle Themen sind die Stärken, die dem Dienst eigentlich wieder Wind unter den Flügeln geben sollten. Bei neuen Entwicklungen, Ereignissen und Veranstaltungen zieht er Nutzer und Nicht-Nutzer nahezu automatisch an. Das gelingt so gut, dass sogar Big Bird Facebook sich davon hat inspirieren lassen und nicht nur Trending Topics einführte, sondern auch die Livevideo-App Periscope imitierte.
Die Journalisten-Brille runter, die Freizeit-Brille auf: Für das lineare Fernsehen und Sportereignisse hat sich Twitter längst auch als eine Plattform für Diskussionen, als Live-Forum etabliert. Zuschauer von Filme, Fans von Serien tauschen sich auf dem Second Screen eher bei Twitter aktiv über das Gesehene aus als bei Facebook.
Gestern Nacht hat Twitter seinen Wert gezeigt, heute sind die Medien mit der journalistischen Einordnung der Ereignisse dran. #ParisAttacks
— Tobias Schwarz (@Isarmatrose) 14. November 2015
Gestern Nacht hat Twitter wieder gezeigt, wie wichtig der Dienst ist. In Sachen Berichte aber auch wg. Hashtags wie #PorteOuverte
— DonDahlmann (@DonDahlmann) 14. November 2015
Es wäre schon ein Anfang, wenn Twitter ein bisschen mehr auf sich selbst schauen würde – statt zwanghaft beim Musterschüler Facebook abzuschreiben, der aber ganz andere Aufgaben vor sich liegen hat. Twitter sollte sich in aller erster Linie selbst treu bleiben, den Fokus stärker auf Aktualität und Echtzeit statt Nutzerwachstum legen. Die treuen Stammkunden der Hashtag-Kneipe an der Tweet-Bar bedienen, statt den Passanten und der Laufkundschaft mit einem Tablett bis vor die Tür von Facebook hinterherzurennen. Ich würde auch für so ein Twitter zahlen: „I wish I had the option to pay like $5 a month for a version of Twitter that didn’t twist itself into knots trying to become Facebook.“ Das finanzielle Problem von Twitter hätte sich dann gleich mit erledigt, genügend Stammgäste hat Twitter schon.